Lesenswertes von Christian Bieniek | |||||||||||||||||||||||||
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Aufsatz von Christian Bieniek in: JuLit 2/03 | ||||||||||||||||||||||||
Der vorliegende Text von Christian Bieniek beruht auf seinem Vortrag beim Symposium „Der kleine Unterschied“, veranstaltet vom Arbeitskreis für Jugendliteratur im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2003. www.jugendliteratur.org |
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Sie sind doch Schriftsteller | |||||||||||||||||||||||||
Schreiben für Jungs - Schreiben für Mädchen - oder | |||||||||||||||||||||||||
Schreiben, damit man nachts in Ruhe schlafen kann | |||||||||||||||||||||||||
Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es hier um die Frage, wie man Jungs dazu bringen kann, mehr zu lesen. Aber ist das wirklich erstrebenswert? Nehmen Sie mich als Beispiel. Ich bin ein lesender Junge gewesen. Und was ist aus mir geworden? Mit 15 bin ich von der Schule geflogen. Ich habe keinen Beruf erlernt. Ich habe keinen Führerschein. Ich war noch nie in meinem Leben in einem Baumarkt. Ich habe noch nie gekocht. Ich weiß nicht, wie eine Waschmaschine funktioniert. Ich habe keinen Schimmer, wie man eine Lampe anschließt. Und wer ist schuld daran? Bücher! Wir sind hier zwar nicht auf einer Oscarverleihung, aber ich möchte mich an dieser Stelle dennoch ganz herzlich bei meinen Eltern bedanken. Wenn ich früher als Kind ein Buch in die Hand genommen habe, hieß es sofort: Bei dem schönen Wetter gehst du nicht Fußball spielen? Oder: Willst du dir die Augen kaputtmachen mit diesen winzigen Buchstaben? - Das Einzige, was meine Eltern gelesen haben, war Das Beste aus Readers Digest. Und das Telefonbuch. Und sonntags das Gebetbuch. Hiermit möchte ich mich auch bei der Katholischen Kirche bedanken. Ohne die Bücherei unserer Gemeinde Sankt Maria Friedenskönigin in Leverkusen wäre ich kein Schriftsteller geworden. Ich hätte brav mein Abitur gemacht und hätte studiert und wäre heute wahrscheinlich arbeitslos, weil ich bereits Mitte 40 bin. Aber ich hätte garantiert einen Führerschein und wüsste, wie man eine Bohrmaschine bedient und einen Kleiderschrank aufbaut. In der Gemeindebücherei gab es nicht nur Bücher, sondern zwei sehr nette ältere Damen, die mir Ratschläge gaben, was ich lesen sollte. Die Kinderbücher hatte ich in wenigen Wochen verschlungen. Als ich auch alle Bücher für Erwachsene gelesen hatte, die nach Meinung meiner beiden Expertinnen für mich in Frage kamen, wurde ich quasi überstellt, und zwar an eine nette Dame in der Stadtbücherei Leverkusen. Dort fing alles von vorne an. Nachdem ich sämtliche Kinderbücher durch hatte, las ich alle anderen Bücher, die mir die Bibliothekarin in die Hand drückte. Und danach las ich den Rest. Warum ich das alles erzähle? Nicht wegen der Bücher, sondern wegen der drei Damen. Damals kam es mir ganz normal vor, dass in Büchereien nur Frauen arbeiteten. Heute weiß ich, dass es kaum Männer gibt, die beruflich mit Büchern zu tun haben. Waren Sie schon beim Psychiater? Wissen Sie, warum hier keine Frau steht, die über ihre Erfahrungen beim Schreiben für Jungs und Mädchen redet? Weil es als selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass Frauen über Jungs schreiben dürfen und auch schreiben können. Hat sich schon mal jemand darüber gewundert, dass Harry Potter nicht Harriet Potter heißt, wo doch die Autorin dieser Serie eine Frau ist? Ich dagegen habe Jahre meines Lebens damit verbracht, mich dafür zu rechtfertigen, dass meine Mädchenbücher so erfolgreich sind. Niemals werde ich ein Seminar für Deutschlehrerinnen vergessen, zu dem ich mal eingeladen war. Gleich zu Beginn der Veranstaltung sagte eine Dame, dass sie und ihre Kolleginnen sich partout nicht damit abfinden könnten, dass ein Mann zu den meistgelesenen Mädchenbuchautoren in Deutschland gehöre. Die Dame erklärte mir, dass sie und ihre Kolleginnen alle meine Mädchenromane gelesen hatten, um mir quasi auf die Schliche zu kommen. Sie wollten mir nachweisen, dass es vermessen von mir wäre, mir einzubilden, mich in ein Mädchen hineinversetzen zu können. Ein wenig enttäuscht sagte die Dame: „Leider mussten wir einsehen, dass es an Ihren Mädchenbüchern absolut nichts auszusetzen gibt. Sie können denken wie ein Mädchen und Sie können fühlen wie ein Mädchen.“ Und dann machte die Dame eine Pause und fragte mich: „Sagen Sie, waren Sie schon mal beim Psychiater?“ Mein erstes Mädchenbuch Eingebrockt hat mir diesen ganzen Ärger natürlich auch eine Frau, und zwar die, von der ich so ziemlich alles gelernt habe, was ich über Kinder- und Jugendbücher weiß: Barbara Küper. Sie war Cheflektorin beim Arena Verlag, als ich dort vor genau zehn Jahren mein erstes Buch veröffentlichte: Immer cool bleiben. Noch ehe es erschien, traf ich mich mit Barbara Küper, um mit ihr über das nächste Buch zu reden. Sie wollte wissen, ob ich schon eine Idee hätte. Ich erzählte ihr von einem Jungen, der etwas kleiner ist als andere und der sich deshalb ein Paar Schuhe mit hohen Absätzen kaufen will. Sie hörte sich die Story an und sagte: „Mach doch ein Mädchen aus dem Jungen.“ Ich: „Wieso?“ Sie: „Dann verkaufst du viel mehr Exemplare von dem Titel.“ Damals hatte ich überhaupt keine Ahnung von der Kinder- und Jugendbuchszene. Ich hatte noch nie eine Lesung gemacht und wusste überhaupt nicht, in was für eine (Frauen-)Welt ich da hineingeraten war. Also zögerte ich nicht lange und nahm Barbara Küpers Vorschlag an. Das erste Problem gab es mit meiner damaligen Agentin Brigitte Axster. Die Arbeit ihrer Agentur konzentrierte sich hauptsächlich auf die Vermittlung von feministischer Literatur. Wie ich ausgerechnet in diese Agentur hineingeraten bin, ist eine andere Geschichte. Jedenfalls fiel meine Agentin fast in Ohnmacht, als sie von meinem geplanten Mädchenbuch hörte. Zum ersten Mal wurde mir alles um die Ohren gehauen, was ich mir dann in den restlichen 90er Jahren bis zum Überdruss anhören musste: Ein erwachsener Mann kann junge Mädchen nicht verstehen. Das hat mich natürlich erst recht angestachelt, es mit einem Mädchenbuch zu versuchen. Meine Agentin war dann auch die erste, die zugeben musste, dass es doch nicht ganz so unmöglich für einen erwachsenen Mann ist, über ein Mädchen zu schreiben. Mittlerweile wurde das Buch (Svenja hat´s erwischt) in sieben Sprachen übersetzt, und inzwischen ist es eher selten geworden, dass sich jemand über das Geschlecht des Autors wundert. Harry Potter und ich Diese ganze Geschichte ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass Erwachsene bei der Beurteilung von Kinder- oder Jugendbüchern eine völlig andere Perspektive einnehmen als die jungen Leserinnen und Leser. Svenja hat´s erwischt ist 1994 erschienen, und in all diesen Jahren hat sich noch nie eine Leserin darüber gewundert, dass dieses Buch von einem Mann geschrieben worden ist. Und wetten, dass noch nie ein Junge darüber nachgedacht hat, ob Harry Potter von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde? Wie wenig sich junge Leserinnen und Leser um die Autoren ihrer Bücher kümmern, möchte ich an einem prominenten Beispiel deutlich machen. Der englische Verlag, in dem die Erstausgabe von Harry Potter erschien, hatte nämlich Angst, Jungs würden das Buch nicht kaufen, wenn der vollständige Name der Autorin auf dem Umschlag abgedruckt würde. Darum steht tatsächlich nicht Joanne K. Rowling auf dem Umschlag der ersten Auflage, sondern J. K. Rowling. Ist das nicht erstaunlich? Noch erstaunlicher finde ich allerdings, dass es die Harry Potter-Leser überhaupt nicht interessiert, wer die Bücher geschrieben hat. Im letzten Jahr habe ich mehr als 200 Lesungen veranstaltet. Die häufigste Frage bei meinen Lesungen war: „Wann schreiben Sie den nächsten Harry Potter?“ Ein 14-jähriges Mädchen wollte allen Ernstes von mir wissen, wann endlich der nächste Harry Potter-Band erscheint. Als ich zurückfragte: „Wieso ich?“, meinte das Mädchen: „Sie sind doch Schriftsteller.“ Ich habe dann sofort eine Umfrage gestartet und gefragt, wer den Harry Potter-Autor kennt. Ergebnis: Niemand. Ich hatte die ganze Sache schon wieder vergessen. Aber zwei Wochen später, bei uns im Ruhrgebiet, wieder die gleiche Frage. Und wieder meine Umfrage. Von 40 Harry Potter-Lesern wussten immerhin vier, dass die Serie von einer Frau war. Den Namen kannte allerdings niemand. - Sehr witzig war das Ergebnis einer Umfrage am Niederrhein. Von den rund 150 Kindern in der Lesung hatten etwa 100 Harry Potter gelesen. Auf meine Frage nach dem Autoren hebt ein Junge die Hand und sagt: „Irgendwas mit Johannes.“ Die bis jetzt beste Antwort bekam ich im Februar dieses Jahres in einem Gymnasium in Duisburg. Ich frage: „Wer hat Harry Potter geschrieben?“ Ein Junge meldet sich sofort und brüllt: „Rufus Beck.“ Total in Frauenhand Kommen wir zurück zu der Tatsache, dass die Kinder- und Jugendbuchszene total in Frauenhand ist. Nicht, dass Sie glauben, ich würde mich darüber beschweren. Um Gottes willen! Dass ich bei meiner Arbeit fast nur mit Frauen zu tun habe, ist ja der Grund, weshalb ich sie liebe. Ich meine die Arbeit. Na ja, und die Frauen eigentlich auch. Seit über zehn Jahren schreibe ich nun Kinder- und Jugendbücher und hatte bisher nur mit einem einzigen männlichen Lektor zu tun, und der war nicht mal bei einem Verlag angestellt, sondern Freiberufler. Wenn ich auf Lesereise bin, werde ich nur ganz selten mal von einem Mann am Bahnhof abgeholt. Was das mit dem Thema zu tun hat? Ganz einfach. Ich frage mich - und Sie -, ob Jungs mehr lesen würden, wenn es mehr Jungs bei den Leuten gäbe, die mit Büchern zu tun haben. Mehr Lektoren, mehr Buchhändler, mehr Bibliothekare, mehr Grundschullehrer. Das Ganze ist ein Kreislauf. Weil Mädchen sich mehr für Bücher interessieren, entscheiden sich später auch mehr Frauen für Berufe, die mit Büchern zu tun haben. Und weil so viele Frauen in diesen Bereichen tätig sind, werden diese Berufe auch nicht so gut bezahlt. Und das ist ein weiteres Argument für Männer, kein Buchhändler oder Bibliothekar zu werden. Insofern fühle ich mich mit meinen Mädchenbüchern irgendwie schuldig. Im letzten Herbst habe ich eine junge Buchhändlerin kennen gelernt, die als Mädchen nie gern gelesen hat. Dummerweise musste sie mit 13 ein Buch von mir im Deutschunterricht lesen und hat sich nie wieder davon erholt. Sie konnte nämlich nicht mehr aufhören zu lesen und wollte später unbedingt in einen Beruf gehen, der mit Büchern zu tun hat. Ich habe mich bei ihr entschuldigt. Ohne mich hätte sie jetzt vielleicht einen gut bezahlten Job als Informatikerin. Oder Apothekerin. Wer weiß. Etikettenschwindel Schreiben für Jungs - Schreiben für Mädchen. Was kann ich noch darüber sagen? - Eigentlich nicht viel. Manchmal nehme ich einen Jungen als Hauptfigur, manchmal ein Mädchen, manchmal einen Hund und manchmal einen Hamster. Aber ich schreibe nicht für Jungs oder Mädchen oder Hunde oder Hamster. Ich schreibe, weil meine Phantasie belagert wird von Figuren und Geschichten, die ich tagsüber loswerden muss, damit ich nachts in Ruhe schlafen kann. Dass es Leute gibt, die meine Bücher gerne lesen, finde ich nach wie vor höchst erstaunlich. Ich gebe meinen Lesern nämlich nie genau das, was sie erwarten. Ja, ich bin ein richtiger Etikettenschwindler. Denn egal, wie die Titel lauten oder die Umschläge aussehen - in all meinen Büchern geht es um nichts als um Respekt. Das Lesen und das Schreiben haben eins gemeinsam: Es sind höchst egoistische Tätigkeiten. Man sondert sich vom Rest der Menschheit ab und verliert sich in einer völlig anderen Welt. Okay, ich gebe es gerne zu: Ich ziehe alle Register, um meinen Leser zu unterhalten. Ich möchte ihn keine einzige Sekunde langweilen. Denn für das, was ich ihm mitzuteilen habe, benötige ich seine ganze Aufmerksamkeit. Und die würde ich nicht bekommen, wenn ich ihn zum Einschlafen bringen würde. Tja, und was habe ich ihm mitzuteilen? Eigentlich nur eine ganz simple Botschaft: Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Da existieren noch ein paar Leute um dich herum, die vielleicht nicht ganz so sind, wie du denkst. Anstatt zu jammern, dass niemand dich richtig versteht, streng dich lieber an, andere zu verstehen. Dann wirst du sehen, wie verdammt schwer das ist. Das Urteil, das du dir über diesen Jungen oder dieses Mädchen oder deine Eltern oder deinen Englischlehrer gebildet hast, ist nichts anderes als ein Vorurteil. Das Leben ist wahnsinnig spannend - aber nicht nur dein eigenes. Fast alle meine Figuren sind Ich-Erzähler. Am Anfang heißt es immer nur ICHICHICH. Am Ende wird daraus immer ein Ich und Du und Du und Du. Und wichtige Themen sind dabei natürlich auch die gängigen Vorurteile, die Jungs von Mädchen und Mädchen von Jungs haben. Ich kann es einfach nicht lassen, immer wieder darüber zu schreiben. Zum Beispiel in meiner Fußballserie Das Kicker-Team. Die könnte viel erfolgreicher sein, wenn ich einfach die üblichen Erwartungen an so eine Serie erfüllt hätte. Aber nein. Meine Hauptfigur spielt nicht nur Fußball, sondern auch Klavier. Und da gibt es ein Mädchen in seiner Klasse, das spielt Geige. Die beiden treffen sich regelmäßig und musizieren gemeinsam. In einem Band der Serie braucht der Junge dringend neue Fußballschuhe. Das Mädchen wird zu seiner Sponsorin. Sie leiht ihm das Geld für neue Schuhe, wenn der Junge eine Woche lang mit einem T-Shirt rumläuft, auf dem der Spruch steht: „Ich mag Mädchen!“ Wenn ich das Buch auf Lesungen vorstelle, ist die Hölle los bei den Jungs. - Aber noch übler stößt den männlichen Lesern die Tatsache auf, dass die Mannschaft der Hauptfigur von einer Frau trainiert wird. Auch mein Buch Hilfe! Ich hab ein Pferd! erfüllt nicht so ganz die Erwartungen, die Leser - und vor allem Leserinnen - normalerweise an Pferdebücher haben. Ein Junge erbt ein Pferd und will es einem Metzger verkaufen, um sich für das Geld ein Go-Kart anzuschaffen. Sie sehen, ich mache es mir nicht gerade einfach. Mich interessiert auch überhaupt nicht, was gerade Mode ist. Ich schreibe keine Fantasy-Bücher, weil Fantasy gerade in ist. Ich lasse kein Buch in Venedig spielen, weil Venedig gerade in ist. Und vor allem schreibe ich keine Fantasy-Bücher, die in Venedig spielen, weil das gerade ganz besonders in ist. Und darum erfülle ich auch nicht die speziellen Erwartungen von Jungs und Mädchen an meine Bücher. Wenn ich das täte, wäre ich noch viel erfolgreicher. Aber ich will es gar nicht allen Recht machen. Ich bin Schriftsteller und kein Handlanger der Marketing-Abteilungen. Meine Serie Oberschnüffler Oswald zum Beispiel passt in überhaupt keine Schublade. Es ist keine richtige Tier- und keine richtige Detektivgeschichte und weder besonders für Jungs noch besonders für Mädchen geeignet, und mit der geballten Ladung an Wortspielen dürften so manche Leserin und so mancher Leser unter zehn Jahren gnadenlos überfordert sein. Warum diese Serie, die allen üblichen Marketingkonzeptionen zuwider läuft, so großen Zuspruch findet, kann niemand erklären. Und genau das ist für mich das Spannende an Literatur. |
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