Lesenswertes von Christian Bieniek
 
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  Schreien und schreiben
 
Wie leben Schriftsteller wirklich?
TOPIC begleitete Christian Bieniek und Marlene Jablonski auf einer Lesereise im Februar 2001
 
 
 
Sitzen im stillen Kämmerlein? Pfeife rauchen? Am Weinglas nippen?
Verträumt aus dem Fenster schauen und ab und zu einen Satz tippen?
Zu schön, um wahr zu sein.

Düsseldorf Hauptbahnhof, Mitte Februar. Ein eiskalter Morgen. Sechs Uhr. Treffpunkt in der Halle, am Würstelstand. Marlene ist pünktlich und gut drauf, wie immer. Wir reden und lachen. Unsere Stimmen sind noch in Ordnung. Drei Monate später wird fast jedes Wort so klingen, als hätten wir mit Rasierklingen gegurgelt. Und fast zehn Monate später, also Anfang Dezember, werden wir einem erstaunten Hals-Nasen-Ohren-Arzt gegenübersitzen.
„Meine Güte!“, wundert er sich, nachdem er unsere Kehlen untersucht hat. „Was macht Ihr beruflich? Schreien?“
Nein, schreiben. Und lesen. Letzteres ziemlich oft. Genau 157 Lesungen standen im letzten Jahr auf unserem Programm.
An jenem frostigen Februarmorgen ging´s nach Rödinghausen. Ein winziger Ort im winzigen Wiehengebirge, irgendwo zwischen Münster und Osnabrück. Letztes Jahr waren wir schon mal da. Nächstes Jahr kommen wir wieder. Alles vertraut: der Lehrer, der uns vom Bahnhof abholt, sein alter VW-Bus, die Schule, die Aula, das Klavier, auf dem Marlene und ich spielen. Die G-Taste in der obersten Oktave klemmt immer noch.
Dann die erste Lesung. Marlene und ich sitzen auf einem Tisch. Wegen dem besseren Überblick und der Akustik. Und weil wir so gerne die Beine baumeln lassen.

Fragen ohne Ende

Lesen mit verteilten Rollen. Ich bin Marcel aus „Immer cool bleiben“. Marlene ist alle anderen. Am nächsten Tag in Bellheim ist sie Svenja aus „Svenja hat´s erwischt“, ich bin alle anderen.
Pause nach dem ersten Kapitel. Fragen kommen, erst spärlich, dann ohne Ende. Erst über das Buch, dann über den Autor, dann über Marlene. Und dann nur noch über Marlene und mich.
Wo wir uns kennengelernt haben. Ob wir zusammen sind. Stets ein wichtiges Thema: unser Alter. Marlene ist 21, ich 43. Anlass zum Grübeln, Feixen und Kichern. Wir halten uns an den Buchtitel „Immer cool bleiben“.
In den nächsten Wochen weitere Lesungen im Rheinland. Köln, Mönchengladbach, Kerpen (wo Schumi herkommt), Köln, Oer-Erkenschwyck (wo Leo DiCaprio herkommt) und wieder Köln.
Keine Übernachtungen. Morgens ganz früh los, abends zurück nach Düsseldorf.
Immer dabei: zwei Psion, ein Discman und vier Ohrstöpsel. Wir hören immer dieselben CDs, die ganze Tour hindurch: Gabrielle, Joe, Dr. Dre, Mary J. Blige, Snoop Doggy Dog und TLC.

Überall schreiben

Die Psions sind unsere kleinen Freunde: Computer, so klein wie eine Hand. Wir brauchen sie zum Schreiben. Im Zug. In Restaurants und in Cafés. Auf Parkbänken und an Haltestellen. Immer wieder klappen wir sie auf und tippen. In jeder freien Minute bequatschen wir unsere gemeinsamen Projekte. Kinderbücher, Jugendbücher, Hörspiele. Und einmal im Monat schreiben wir fürs nächste TOPIC eine neue „Jessica“.
Eine reiche Kleinstadt bei München lässt uns für zwei Lesungen aus Düsseldorf einfliegen. Ich hasse Flugzeuge, auch die von der Lufthansa! Marlene hält Händchen. Hilft trotzdem nicht. Mir ist schlecht. Später im Auto wird mir noch schlechter. Doch als wir schließlich wieder auf einem Tisch sitzen und ich mich in den coolen Marcel verwandle, ist alles okay.

Nach Österreich

Dann die erste Woche am Stück unterwegs. Zunächst nach Backnang bei Stuttgart, danach vier Tage nach Pressath in der Oberpfalz. Ein Dorf mit einigen Straßen, einer Tankstelle und einem Gasthof, in dem wir auch wohnen. Dort gibt´s das leckerste Essen auf der ganzen Tour. Jeden Tag drei oder vier Lesungen in der Umgebung. Alles perfekt organisiert von Ekkehard Bodner, dem Buchhändler in Pressath.
Danach geht es Richtung Süden, nach Österreich. Zwei Lesungen in Stronsdorf in Niederösterreich. Anschließend fahren wir nach Wels zur Lesetopia.

Seltsame Zeit

Sommerpause. Kein Applaus, keine Rufe nach Zugaben, keine Autogrammwünsche. Seltsame Zeit…
Im September geht die Tour erst richtig los. Jetzt sind wir immer ganze Wochen am Stück unterwegs. Zum Beispiel Norddeutschland. Zehn Tage, 17 Orte, fast 30 Lesungen. Leben aus dem Koffer. Jede Nacht ein anderes Hotel. Schreiben? Schwierig. Fast unmöglich. Abends ist nur noch MTV angesagt. Und Schweigen. In Ludwigshafen, mitten in einer Lesung, kriegt Marlene keinen Ton mehr raus. Trinkt ein Glas Wasser und krächzt sich weiter durch den Text. Zum Glück sind danach ein paar Tage Pause.
Obskure Veranstaltungen gab´s auch. Zum Beispiel in einem Supermarkt im Saarland. Eltern geben Kinder vor dem Einkaufen in einem kleinen Hort ab. Dort sollen wir lesen. Vor Zwei- bis Vierjährigen. Niemand hört uns zu. Ständiges Kommen und Gehen. Marlene und ich verlieren trotzdem nicht unsere gute Laune. Wir lesen uns gegenseitig was vor. Nicht das, was im Buch steht, aber das ist egal. Wir könnten auch das Telefonbuch vorlesen, ohne dass sich jemand darum kümmern würde.

Kann ich Ihr Handy haben?

Eine Woche später ein Seminar für DeutschlehrerInnen. Haben alle meine Mädchenbücher gelesen und sind erstaunt, dass ich wie ein Mädchen denken und fühlen kann.
Eine Lehrerin: „Haben Sie deshalb schon mal eine Therapie gemacht?“ Gut, dass die Damen meine Hundebücher nicht kennen…
Andere Fragen bei anderen Lesungen: „Welche Haarfarbe hatten Sie denn früher?“, „Schenken Sie mir Ihr Handy?“, „Warum kommen in den Büchern denn keine Soldaten vor?“, „Dürfen wir Ihnen was vortanzen?“ und „Warum sind Sie witziger als mein Vater?“.
Die letzten Lesungen in Bregenz am Bodensee. Wunderschöne Gegend, reizende Menschen, aber eisig kalt. Wie im Februar in Rödinghausen. Eine Frage stellen wir uns nach der 157. Lesung schließlich selbst: Und wozu das alles?
Da fällt uns der Junge von einer unserer Lesungen im Ruhrgebiet ein: „Hey, ich dachte immer, Bücher sind voll Scheiße! Aber ihr seid echt cool. Vielleicht les ich auch mal so´n Scheiß!“